Gezeiten aus physikdidaktischer Sicht

Die Gezeiten sind zunächst nur für Küstenbewohner interessant und herausfordernd. Heute  kann man aber davon ausgehen, dass viele ältere und jüngere Menschen dieses Phänomen vor allem im Urlaub erleben und Intresse daran finden. Ein Beispiel für die Wirkung der Gezeiten ist das Bild am Seitenanfang. Fährt man mit der Maus auf das Bild, so springt es in den anderen Gezeitenzustand: Von Niedrig- zu Hochwasser oder umgekehrt  (Hafen von Sauzon, Belle Isle (Bretagne, Frankreich)).
Stellt sich nicht bei Betrachtung dieser Bilder die Frage nach dem Warum?
Zur Beantwortung dieser Frage gibt es Hilfen in Schulbüchern und vielen populärwissenschaftlichen Darstellungen. Leider sind die Erklärungen in diesen Büchern oft falsch oder missverständlich. Für Interessierte und Lernende sind diese Darstellungen unbefriedigend und wenig hilfreich. Sie stellen oft eine Quelle für Fehlvorstellungen dar. Es gilt auch hier der leider in der Lehre allzu oft gültige Satz: ".. man kann es nur verstehen, wenn man es schon verstanden hat". Wesentliche Kritikpunkte sind:

  • Die Flutberge werden als Folge der Drehung der Erde um die eigene Achse und um den gemeinsamen Schwerpunkt von Erde und Mond gedeutet.
    Richtig ist: Die beiden Flutberge sind nur eine Folge des inhomogenen Gravitationsfeldes des Mondes, in dem die Erde ständig in Richtung Mond fällt.
    Dies lässt sich anhand der nebenstehenden Skizze sofort einsehen: Eine starre Stange fällt im inhomogenen Gravitationsfeld des Mondes (Pfeilrichtung). Drei Astronauten halten sich an der Stange fest und zwar an dem mondzu- (A), dem mondabgewandten (B) Ende und im Schwerpunkt (M). Sie fallen zunächst mit der Stange in Richtung Mond. Lassen sie nun los, so eilt der eine (A) aufgrund der Inhomogenität des Gravitationsfeldes der Stange voraus und der andere (B) bleibt zurück. Nur der Astronaut im Schwerpunkt (M) fällt mit der Stange.
    Die beiden Astronauten repräsentieren das Wasser und andere bewegliche Teile der Erde. Aus dieser Betrachtung wird deutlich, dass die Entstehung der beiden Flutberge nichts mit den Drehungen der Erde zu tun haben. Diese sind nur wichtig zur Deutung der Periodizität der Gezeiten und der Flutberghöhen.
    Mit diesem Modell lässt sich auch der Einfluss der Sonne auf die Gezeiten deuten.
  • Bei der Beschreibung und Deutung werden Argumentation aus unterschiedlichen Bezugssystemen gemischt, ohne klar das jeweils zuständige System zu nennen. Es sins dies das Inertialsystem Weltall und das der rotierenden System Erde.  Dies führt u.a. zu der Aussage:
    im Schwerpunkt der Erde heben sich Gravitationkraft und Zentrifugalkraft auf.
    Dies ist für den Lernenden „tödlich“. Hat er doch gerade gelernt, dass sich die Erde auf einer Kreisbahn bewegt und dass dazu eine Zentralkraft auf den Schwerpunkt notwendig ist. In der fragwürdigen Argumentation würde sich die Erde geradlinig bewegen, da sie sich im Kräftegleichgewicht befindet. Trägheitskräfte folgen außerdem nicht den Newtonschen Axiomen.
    Die Mischung von Argumgenten, die nur in bestimmten Bezugssystemen gültig sind, kann man nur verstehen, wenn man sicher im Umgang mit Bezugssystemen ist, was bei Lernenden nicht vorausgesetzt werden kann.
    Richtig ist: Argumentation nur im Inertialsystem Weltall. Das Argument, dass Schüler bzw. Lernende die Zentrifugalkraft nennen, gilt hier nicht, da keiner diese Scheinkraft auf der Erde jemals bemerkt haben kann.
  • Die Deutungen enden meistens mit dem Ergebnis, Entstehung und Größenabschätzung der Gezeitenkraft anzugeben. Zur Frage, warum z.B. die Ostsee praktische keine Gezeiten zeigt aber die Nordsee wesentlich davon geprägt wird, erfolgt keine Antwort.
    Richtig ist:
    Die Gezeitenkraft bewirkt nur eine Anhebung des Wasserspiegels der freien Ozeanoberfläche um wenige Dezimeter. Zur Deutung der beobachtbaren Wasserspiegelunterschiede von bis zu 20 m muss man den dynamischen Aspekt der Gezeiten heranziehen. Die periodisch wirkende Gezeitenkraft kann in passenden Meesesbecken oder Buchten Eigenschwingungen anregen, die zu den großen Schwankungen führen.

Das Anliegen von Solstice ist, für die Lehre geeignete Vorschläge anzubieten, durch die obige Widersprüche, Fehler und Ungereimtheiten vermieden werden können. Das Angebot besteht in Folgendem:

  • Artikel in Wege in der Physikdidaktik, Band 1: Helmut Näpfel, Werner B. Schneider: "Die Gezeiten und ihre Behandlung im Physik- und Astronomieunterricht".
    In dieser Veröffentlichung wird gezeigt, wie man durch ein gedankliches Ausschalten aller Drehbewegungen die sonst üblichen unübersichtlichen Argumentationen vermeiden und zu einer verständlichen Deutung kommen kann. Auch wird gezeigt, dass man sich bei den herkömmlichen Deutungen nur auf den statischen Aspekt der Gezeiten beschränkt und nur die Gezeitenkraft (Ursache und Größe) beschreibt. Für die sichtbaren Auswirkungen der Gezeiten - die Ostsee zeigt z.B. keine Gezeiten, die Nordsee um so mehr - ist aber der dynamische Aspekt viel wichtiger, der auch näher erläutert wird.
  • W.B. Schneider: Powerpointfolien zu einem Vortrag und Computerprogramm. 
    Der Vortrag stellt eine illustrierte Fassung der o.g. Veröffentlichung mit zeitgemäßen Ergänzungen dar. Es ist also empfehlenswert Veröffentlichung und Vortrag zusammen zu verwenden. Es wird anhand von Bildern in das Naturphänomen Gezeiten und dessen Auswirkungen eingeführt. Auch werden technische Vorschläge und Realisierungen zur Nutzung der Gezeitenenergie beschrieben. Im Hauptteil werden die Anliegen des o.g. Artikels aufgegriffen und ausführlich anhand von Skizzen und Bildern erläutert. Zusätzlich wird noch das Windows-Programm Neptun zur Vorausberechung der Gezeiten für viele Orte auf der Erde zur freien Nutzung mitgeliefert. Das Computerprogramm - erstellt von J. Kretschmann -  beinhaltet auch Modelle für eine analoge Gezeitenrechenmaschine.
  • Vorlagen und Bauanleitung für ein Modell zur Veranschaulichung der Bewegung von Erde und Mond um ihren gemeinsamen Schwerpunkt. Diese Bewegung ist ungewohnt. Sie ist Anlass vieler Fehlvorstellungen. Das Folienmodell hilft diese Bewegung im Modell zu verstehen. Das Modell ist ausführlich im o.g. Artikel (Helmut Näpfel, Werner B. Schneider: "Die Gezeiten und ihre Behandlung im Physik- und Astronomieunterricht") beschrieben. Die Vorlagen gestatten den Selbstbau des Folienmodells. Es ist für den Einsatz im Unterricht besonders geeignet.


    ----- Stand Feb. 2010 -----